Klimaneutral wachsen – aber wohin mit dem Kohlendioxid?

„Negative Emissionen“ seien nötig, um die Klimaziele von 1,5 bzw. 2° C zu erreichen, schreibt der Weltklimarat IPCC in Szenarien seines Berichts vom April 20221. Gemeint sind menschliche Aktivitäten, die Kohlendioxid wieder aus der Atmosphäre abscheiden und dann dauerhaft in Gesteinen, Böden, Vegetationen, im Meer oder in Produkten binden; im Englischen spricht man von Carbon Dioxide Removals, kurz: CDR. Man kann sie in naturbasierte Lösungen, zum Beispiel verstärkte Humusbildung und Wiederbewaldung, und in technische Lösungen unterteilen, wie etwa das Abscheiden und Speichern des Kohlendioxids in Kraftwerken.

Allerdings sind diese Methoden stark von den politischen, sozialen und ökologischen Rahmenbedingungen sowie neuen technologischen Entwicklungen abhängig. Daher gibt es auch zahlreiche Kritik an diesen Ansätzen, der sich auch das Klima-Bündnis in der Charta der Klima-Bündnis-Mitglieder vom September 2021 angeschlossen hat: Es handle sich bei der Abscheidung und Speicherung nicht um Brückentechnologien, sondern sie blockieren und verzögern den notwendigen Kurs, der für die Transformation in eine post-fossile Zukunft notwendig sei.2

Der politische Prozess ist in vollem Gange
Die EU-Kommission erklärte Ende 2021 Carbon Dioxid Removals als notwendig zum Erreichen der Ziele des EU Green Deals. Sie arbeitet derzeit an einem Kriterienkatalog dafür. Bis Ende dieses Jahres sollen Spielregeln für einen neuen Markt mit handelbaren Gutscheinen für alle Formen von abgeschiedenen und gespeicherten Mengen von CO2 definiert sein; dazu hat die Kommission bis Anfang Mai eine öffentliche Konsultation mit einem Fragebogen zur Zertifizierung von Kohlenstoffabscheidung und -speicherung organisiert.3 Der Rat der EU hat die Position der Kommission Anfang März im Wesentlichen begrüßt, aber viele Ergänzungen zur Zusätzlichkeit und Dauerhaftigkeit der Speicherung und der Vermeidung negativer Einflüsse auf Umwelt und Biodiversität angefügt.4 Zwei Methoden werden die stärksten Auswirkungen auf Landnutzung und Vegetation haben – und damit auch auf indigene Völker und Kleinbauern: Carbon Farming und BECCS.

Carbon Farming – die neuen Kohlenstoffbauern?
Unter Carbon Farming versteht man land- und forstwirtschaftliche Aktivitäten, die den Kohlenstoff in der Atmosphäre verringern, indem sie ihn in der lebenden Biomasse, in toter organischer Materie und im Boden von Grasland, Wäldern, Mooren und Äckern speichern. Grundsätzlich ist die Steigerung des CO2-Gehalts in unseren Böden gut und richtig. Laut EU-Kommission soll jedoch ein Geschäftsmodell entstehen, in dem „Land Manager“ für diesen zusätzlich gebundenen Kohlenstoff entlohnt werden, anstatt dass sie ihr Subventionsmodell reformiert.5 Und hier steckt der Teufel im Boden:

  • Zusätzlichkeit: Um zu messen, wieviel Kohlenstoff zusätzlich gebunden wurde, muss man dessen Gehalt am Anfang der Aktivität messen. Doch es gibt große Unsicherheiten. Selbst in gleichförmigen Feldern kann der Kohlenstoffgehalt bis um das Fünffache variieren; umso vielfältiger sind die regionalen und globalen Unterschiede.6, 7
  • Dauerhaftigkeit: Eine Tonne Kohlendioxid bleibt mehrere hundert Jahre in der Atmosphäre. Welche*r Landwirt*in kann eine ähnlich lange Garantie für die Bindung des Kohlenstoffs im Boden geben? Viele Projekte haben nur Laufzeiten von rund 10 Jahren. Man kann biogenen Kohlenstoff nicht so einfach mit fossilem aufrechnen.
  • Die verengte Sicht auf Kohlenstoff kann zu Vernachlässigung der Artenvielfalt durch Monokulturen und sozialen Konflikten führen.
  • Der ganze Prozess des Monitorings ist komplex und teuer, daher müssen die Fixkosten für Instrumente und Fachleute auf möglichst große Flächen umge-legt werden. Es entsteht hier wie im gesamten EU-Agrarsystem durch seine auf die Fläche bezogene Förderung ein weiterer Vorteil für Großbetriebe. Kleine Familienbetriebe können sich das nicht leisten.8
  • Nicht nur in Europa sondern weltweit wird ein neuer Markt für Abscheidungszertifikate entstehen, ähnlich dem Emissionshandel. Carbon Farming wird dort am interessantesten, wo die Boden- und Arbeitspreise am niedrigsten und die Sozial- und Umweltgesetzgebung am schwächsten sind; vor allem da steigt das Risiko von Landgrabbing, zum, Beispiel in Brasilien.
  • Der Agrarsektor trug 2019 zu rund 11 % der Emissionen in der EU bei – vor allem durch Methan aus Viehzucht und Lachgas aus der Düngung.9 Sollte der Sektor eigentlich nicht zuerst diese senken, ehe er sich darum bemüht, fossile Emissionen anderer zu „neutralisieren“?10 Und für all diejenigen, die bereits jetzt für hohe Humusanteile im Boden gesorgt haben, zum Beispiel Bio-Landwirt*innen, ist es sehr schwer, zusätzlich weiter Kohlenstoff zu speichern – statt gefördert werden sie benachteiligt.

Vom Acker in der Untergrund: Bioenergy with Carbon Capture and Storage
BECCS bezeichnet einen industriellen Prozess, bei dem Biomasse (zum Beispiel Zuckerrohr oder Mais) für “grünen“ Strom verbrannt und das dabei entstandene Kohlendioxid gefangen und unterirdisch gespeichert wird. Ein idealer Standort muss also große Mengen von Biomasse in der Nähe haben (oder einen Hafen) und unterirdische Lagerstätten, zum Beispiel leergepumpte Öl- oder Gasfelder, die über Jahrhunderte „dicht“ sein sollen. Bei allem Technik- und Marktoptimismus sieht der Weltklimarat auch die Risiken der Abscheidung: Die für solche Projekte angepflanzten Monokulturen können negative Folgen für die Artenvielfalt, Nahrungs- und Wassersicherheit, lokale Lebensunterhalte und Rechte indigener Völker haben11.

Die erste BECCS-Anlage läuft seit 2011 in einem Ethanol-Kraftwerk im US-Bundesstaat Illinois mit einer derzeitigen Kapazität von 1 Million Tonnen CO2 pro Jahr. Das Kohlendioxid wird gefangen, verflüssigt und dann in einer Pipeline in eine mit Salzwasser getränkte Sandsteinformation unter einer undurchlässigen Gesteinsschicht gepumpt12. Weitere Anlagen in den USA, Großbritannien und Brasilien sind bereits in Planung.13, 14 Neben der Agrarwirtschaft treiben Gas- und Ölindustrie weltweit Abscheidungs-und Speicherprojekte voran, da sie leergepumpten fossilen Lagerstätten neuen Wert verleihen und somit die weitere Förderung von Gas und Öl legitimieren15.

Die kritischen Stimmen zu BECCS fasst eine aktuelle Studie von FERN gut zusammen16: BECCS-Kraftwerke brauchen selbst viel Strom, zum Beispiel für den Transport der Biomasse, und Unmengen an Land und Wasser. Sie seien außerdem technologisch unausgereift und sehr teuer, reduzieren die Artenvielfalt und beanspruchen öffentliche Subventionen, die woanders effizienter eingesetzt wären, beispielsweise für Maßnahmen zur Wiederherstellung von Mooren oder Aufforstungen.

Vorläufiges Fazit
Der ganze Ansatz zielt darauf ab, Abscheidungsprojekte für private Investitionen über den Emissionshandel attraktiv zu machen. In der oben genannten Konsultation17 begrüßen zahlreiche Akteur*innen aus der Wirtschaft die Pläne zur Kohlenstoffabscheidung und -speicherung; einige regen an, auf Regeln des Voluntary Carbon Market aufzubauen, unter anderem die Bayer AG. Tatsächlich laufen bereits solche Projekte im Bodenseeraum.18

Gerade weil die Finanzierung von Abscheidungsprojekten durch den Verkauf von Zertifikaten deren positiven Effekt auf das Klima neutralisiert, fordert CAN-Europe, der Dachverband europäischer Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, dass die Kohlenstoffabscheidung nicht austauschbar mit Emissionsrechten sein darf und einem separaten eigenständigen Ziel neben dem Reduktionsziel zugeordnet wird.19 Völlig aus dem Blickwinkel geraten bei diesem Marktansatz sind traditionelle bäuerliche oder indigene Methoden, die Biomasse erhalten, jedoch keine neuen Umsatzmöglichkeiten bieten. Aber offensichtlich liegen die Prioritäten der EU-Kommission woanders: „Mit dem ‚EU Green Deal‘ als Wachstumsstrategie der EU sollte auch die Beseitigung von Kohlenstoff ein neues Geschäftsmodell werden.“20

Geschrieben von Dietmar Mirkes, ehemaliger Nationalkoordinator Klima-Bündnis Luxemburg

 

Quellen:

  1. IPCC (April 2022): Climate Change 2022 Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change
  2. Klima-Bündnis (September 2021): Charta der Klima-Bündnis-Mitglieder, URL: https://www.klimabuendnis.org/fileadmin/Inhalte/1_About_us/Association_docs/CA_Charter_2021/Charta_der_Klima-B%C3%BCndnis-Mitglieder_DE_2021.pdf (Zugriff am 2.6.2022)
  3. European Commission (15. Dezember 2021): Sustainable Carbon Cycles. Communica-tion from the Commission to the European Parliament and the Council, COM (2021) 800 final, Brüssel, URL: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13172-Certification-of-carbon-removals-EU-rules_en (Zugriff: 13.6.2022)
  4. Council of the European Union (3. März 2022): Annexe „Council conclusions for agri-culture and forestry on the EU Commission’s communication on sustainable carbon cycles, Draft, Brüssel
  5. European Commission (15. Dezember 2021): Sustainable Carbon Cycles. Communica-tion from the Commission to the European Parliament and the Council, COM(2021) 800 final, Brüssel
  6. Célia Nyssens, EEB (27. April 2022): Carbon Farming: myths and opportunities, Präsen-tation bei Veranstaltung „Carbon Dioxide Removal in the EU“ am 27 April 2022
  7. Institute for Agriculture and Trade Policy (IATP) & European Coordination of La Via Campesina (23. März 2022): Why carbon markets won’t work for farmers and climate, URL: https://www.iatp.org/event/webinar-carbon-farming- why-carbon-markets-wont-work-farmers-climate (Zugriff am 20.4.2022)
  8. Hélène Tordjman/European Coordination of La Via Campesina (23. März 2022): Carbon Farming. A „new business model“ for who?, URL: https://www.eurovia.org/ecvc-publication-carbon-farming-a-new-business-model-for-who/ (Zugriff am 2.6.2022)
  9. Europäisches Parlament (29. Oktober 2021): Treibhausgasemissionen nach Ländern und Sektoren, URL: https://www.europarl.europa.eu/news/de/headlines/society/20180301STO98928/treibhausgasemissionen-nach-landern-und-sektoren-infografik (Zugriff am 2.6.2022)
  10. Darrin Qualman and National Farmers Union (März 2022): Agricultural Greenhouse Gas Emissions in Canada: A New, Comprehensive Assessment, NFU, URL: https://www.nfu.ca/publications/a-new-comprehensive-assessment-ghg-emissions-canada-2022/ (Zugriff am 2.6.2022)
  11. IPCC (April 2022): Climate Change 2022 Mitigation of Climate Change. Contribution of Working Group III to the Sixth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change, Kap.C.11.2; siehe auch Kapitel 7 „Risk management and decision-making in relation to sustainable development“ im IPCC- Spezialbericht „Climate Change and Land, August 2019, Summary for Policy Makers.
  12. Biorecro: BECCS Projects, URL: https://www.biorecro.com/beccs-projects ( Zugriff am 25.4.2022)
  13. Drax Power Limited: Carbon Capture, URL: beccs-drax.com (Zugriff am 25.4.2022)
  14. Bioenergy International, URL: www.bioenergyinternational.com (Zugriff am 26.4.2022)
  15. CSL Forum (2022): Carbon Sequestration Leadership Forum, URL: https://www.cslforum.org (Zugriff am 26.4.2022)
  16. FERN (März 2022): Six problems with BECCS, URL: www.fern.org (Zugriff am 2.6.2022)
  17. European Commission (15. Dezember 2021): Sustainable Carbon Cycles. Communica-tion from the Commission to the European Parliament and the Council, COM (2021) 800 final, Brüssel, URL: https://ec.europa.eu/info/law/better-regulation/have-your-say/initiatives/13172-Certification-of-carbon-removals-EU-rules_en (Zugriff: 13.6.2022)
  18. Joshua Kocher (28. April 2022): Die Erde mit Erde retten, Süddeutsche Zeitung, URL: https://sz-magazin.sueddeutsche.de/wissen/carbon-farming-klima-klimaschutz-91475?reduced=true (Zugriff am 13.6.2022)
  19. Stellungnahme von CAN-Europe zur „Certification of carbon removals“, interne Ar-beitsgruppe
  20. European Commission (15. Dezember 2021): Sustainable Carbon Cycles. Communica-tion from the Commission to the European Parliament and the Council, COM(2021) 800 final, Brüssel